Argumentieren gegen islamistische Parolen!

Wat sachste? Lamya Kaddor – Islamwissenschaftlerin und Religionspädagogin

Für unsere aktuelle Folge von „Wat sachste?“ haben wir Lamya Kaddor in Duisburg besucht. Sie ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin sowie ehemalige Lehrerin und publiziert zu Themen wie muslimischer Identität und religiöser Radikalisierung. Seit 2021 ist sie Bundestagsabgeordnete und innenpolitische Sprecherin für Bündnis 90/Die Grünen. Im Interview bezieht sie Stellung zum Krieg in Nahost, spricht über aktuelle Herausforderungen der Islamismusprävention in Deutschland und teilt mit uns ihre Lieblingsbotschaften des Islam. Vor dem eigentlichen Internview haben wir sie mit gängigen islamistischen Parolen konfrontiert und sie spontan dazu Stellung nehmen lassen. Ihre Antworten stehen für eine progressive Lesart des Islam und zeigen eine Möglichkeit auf, wie man solchen Aussagen zu begegnen kann.

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Parole 1: „Islam und Demokratie sind unvereinbar. Die islamischen Regeln sind der westlichen Wertediktatur überlegen.“

Kaddor: Also, zunächst muss man festhalten, es gibt gar keine islamischen Regeln, die so feststehen, dass sie nie verändert oder anders interpretiert worden sind. Die sogenannte Scharia ist kein Index, ist kein Gesetzbuch, worin alle möglichen islamischen Regeln festgehalten werden und die dann nur so ausgelebt werden dürfen, sondern die Scharia kann man dynamisch auslegen oder auch dogmatisch auslegen. Das heißt, nicht jeder Muslim würde bestimmte Gebote gleich auslegen. Wir haben ein paar feste Gebote, beten, fasten, also alles, was so die 5 Säulen beinhalten, alles darüber hinaus wurde und wird weiterhin interpretiert und sehr unterschiedlich interpretiert. Insofern, diese These vertrete ich, kann man sehr wohl eine bestimmte Auslegung der Scharia, also eine dynamische, eine zeitgemäße Auslegung der Scharia, sehr wohl mit dem Grundrecht vereinen. Aus meiner Sicht geht das, deshalb stimme ich der These nicht zu, dass islamisches Recht immer und überall und in jeder Konsequenz unvereinbar sei mit dem Grundgesetz. An den Stellen, wo es tatsächlich nicht klappt, muss man sagen, dieser Teil des islamischen Rechtes ist nicht vereinbar mit dem Grundgesetz, aber ich würde das niemals verallgemeinern und so ausdrücken.

Parole 2: „Israel ist ein imperialer Kolonialstaat und hat auf dem Gebiet der Palästinenser nichts zu suchen.“

Kaddor: Schwierige Aussage deshalb, weil sie sehr einseitig ist. Tatsächlich ist die Staatsgründung Israels aus der Geschichte vor allen Dingen heraus zu erklären, ja sechs Millionen Jüdinnen und Juden wurden hier in Europa schrecklichst getötet und systematisch getötet. Wir haben ihnen sehr viel Leid angetan, ja, und es wurde ihnen Land zugesprochen, das ist richtig. Und ja, es ist auch sehr viel Leid entstanden, das, glaube ich, kann keiner wirklich in Abrede stellen. Aber deshalb Israel als Kolonialstaat zu bezeichnen ist ehrlich gesagt aus meiner Sicht unverantwortlich, weil es auch ein bisschen die Geschichte verkennt und auch verdreht. Was wir aber tatsächlich tun müssen, und da bin ich dann doch, zumindest bei jenen, die sagen, wir müssen unser postkoloniales Erbe mal aufarbeiten und wir müssen noch mal genauer auf die Hintergründe schauen, und wir müssen auch Geschichte noch mal genauer aufarbeiten und in dem Kontext vielleicht überlegen, inwieweit man Israel als sogenannten Kolonialstaat oder Besatzerstaat verstehen darf, vielleicht dann eben doch nicht so zu verstehen, ich glaube, das müssen wir tatsächlich leisten, auch im Rahmen unserer Schulbildung passiert das zu wenig. Ich glaube auch, dass wir zu wenig qualifiziertes Personal haben, de facto ist es aber so, dass sich die Bundesregierung sehr wohl dazu verständigt hat, unser koloniales Erbe, auch das europäische koloniale Erbe, zu thematisieren.

Parole 3: „Die Politik verfolgt eine Agenda zur Assimilation der Muslime in Deutschland!“

Kaddor: Das ist insofern absurd, als dass gerade die deutsche Politik und der Rechtsstaat uns ja dazu verpflichtet, jede Religionsgemeinschaft und jede Glaubensgemeinschaft ernst zu nehmen und ihnen auch diese Rechte einzugestehen, das steht so im Grundgesetz. Wir sehen das zum Beispiel daran, ganz praktisch, an der Einführung eines islamischen Religionsunterrichts, in sehr vielen Bundesländern ist das längst möglich und gelebte Praxis. Es ist möglich, dass Musliminnen und Muslime hier nach muslimischem Ritus bestatten. Es ist möglich, dass Musliminnen und Muslime hier mit Sondergenehmigung Tiere schächten dürfen, um sie also rituell töten zu dürfen, um sie dann verzehren zu können. Es ist möglich, islamische Bildungseinrichtungen zu etablieren. Es gibt islamische Kindergärten, es gibt zum Teil auch islamische, andere Bildungseinrichtungen, wir haben Freitagsgebete, die zum Teil öffentlich stattfinden dürfen, der Muezzin, oder ja, ich wollte gerade sagen, die Muezzinin, wenn es diese denn gäbe, dürften öffentlich rufen. Deshalb stimme ich der These so nicht zu, das stimmt nicht.

Parole 4: „Liberale Muslime sind Handlanger der deutschen Assimilationspolitik. Sie verbreiten islamfeindliche Positionen unter dem Deckmantel von Reformen.“

Kaddor: Das teile ich so auch nicht. Liberale Musliminnen und Muslime, man kann sie nennen wie man will, übrigens, ich würde sie dem progressiven Spektrum innerhalb des Glaubensspektrums des Islams zuordnen, ob man sie jetzt der säkular oder progressiv nennt, ist erst einmal egal. Aber wenn es um die These geht, dass die quasi so assimiliert seien und quasi, wie soll ich sagen, die beliebtesten Muslime für Politik und Gesellschaft sind, ist das absurd. Denn tatsächlich befinden sich immer progressive Menschen, die versuchen, vermittelnde Positionen einzunehmen, die also dazwischen stehen, einerseits sagen sie sind Muslime, andererseits aber sagen, sie sind auch Deutsche, und sie sind auch diesem Rechtsstaat verpflichtet gegenüber, immer zwischen zwei Fronten und werden in der Regel oder drohen in der Regel sehr zerrieben zu werden, sowohl mit den Positionen, aber auch in ihrem Selbstverständnis. Deshalb ist die Wahrheit eher die, dass gerade gemäßigte Position innerhalb dieses Glaubensspektrums des Islams zwischen Islamhassern und Islamisten sozusagen zerrieben werden auf der einen Seite und gleichzeitig eben nicht dem Staat allein als Ansprechpartner dienen. Von dieser Sicht sind wir politisch schon lange weg, da waren wir eigentlich auch noch nie.

Parole 5: „Feminismus ist ein Konstrukt des Westens. Islamische Familien sind das letzte Bollwerk gegen sich eine immer mehr zersetzende Gesellschaft.““

Kaddor: Der Feminismus, wenn man es genau betrachtet, ist eigentlich ein fester Bestandteil der islamischen Lehre. Ich weiß, dass viele damit gar nicht konform gehen können, weil sie das als Widerspruch wahrnehmen, tatsächlich war es aber Mohammed, der Prophet höchstpersönlich, wenn ich das jetzt mal als islamische Religionslehrerin auch sagen darf, der durchaus Frauenrechte zugestand, und zwar nicht nur irgendwelche Rechte. Frauen hatten das gleiche Recht, sich zu bilden, Frauen hatten das Recht Männern gegenüber Nein zu sagen, auch Nein zu einer Eheschließung.

Frauen hatten zum Beispiel auch das Recht, es wird häufig auch übrigens anders interpretiert, bestimmte Riten nicht ausführen zu müssen, also nicht zu beten, nicht zu fasten, wenn sie ihre Menstruationsblutung haben. Insofern würde ich nicht sagen, und das ist glaub ich auch wichtig an der Stelle, dass der Islam dem Feminismus eine Absage erteilt, ganz im Gegenteil, wenn wir den islamischen Geist aufnehmen würden, den Mohammed durchaus stark gemacht hat, dann würden wir es verstehen, dass wir eigentlich heute überzeugte Feministinnen sein müssten. Es gab zum Beispiel auch den Usus, auf der arabischen Halbinsel, in der sogenannten Dschahiliyya als auch in der vorislamischen, aber dann später auch in der islamischen Zeit, dass zum Beispiel neugeborene weibliche Babys begraben werden durften bei lebendigem Leibe, Geburtenregelung oder wie auch immer man das nennen möchte. Auch dem hat Mohammed deutlich eine Absage erteilt. Insofern stimme ich mit dieser Aussage überhaupt nicht überein.

Parole 6: „Die islamischen Quellen sind eindeutig. Daher gibt es auch nur eine richtige Interpretation des Islam.“

Kaddor: Die islamischen Quellen sind zwar eindeutig, die höchste islamisch theologische Quelle ist natürlich der Koran als direkt offenbartes Wort Gottes, so verstehen Musliminnen und Muslime das weltweit. Gleichzeitig ist es so, dass diese Hauptquelle des Islams und meinetwegen auch gern die zweite Quelle, nämlich die Überlieferung und Aussagen über den Propheten und vom Propheten Mohammad zwar gleich gelesen werden, aber natürlich nicht gleich verstanden werden. Denn wenn dem so wäre, praktisches Beispiel: Warum beten heute Musliminnen und Muslime immer noch sehr unterschiedlich? Die einen heben die Arme beim Allahu Akbar sagen und halten sie sich so vor die Brust, rechte Hand über die linke Hand und dann beten sie. Die anderen heben beim Allahu Akbar eben nicht die Arme. Es gibt wiederum andere Muslime, die die Arme komplett unten lassen, die sie also nicht vor der Brust verschließen. Wenn dem, wenn das alles so eindeutig wäre, wie wir den Islam zu verstehen hätten, warum gibt es dann all diese Unterschiede, warum tragen Frauen ihr Kopftuch oder ihre Kopfbedeckung so unterschiedlich beispielsweise. Es hat also sehr wohl damit zu tun, dasa der Islam nicht zu allen Zeiten, zu allen Menschen und von allen Menschen gleich verstanden werden konnte. Und eigentlich ist das ein Reichtum, eigentlich ist es sogar gut, dass wir Musliminnen und Muslime diesen Glauben nicht komplett gleich verstehen, sondern dass er uns Möglichkeiten gibt, stärker darüber nachzudenken, was das Wort kommt, das eigentlich bedeuten kann.

Parole 7: „Die Meinungsfreiheit ist nur ein Deckmantel zur Legitimation des Islamhasses!“

Kaddor: Was soll das sein? Das heißt also, ich mache den Islam als Religion, als solche unmöglich, dass das aber eigentlich gar nicht geht, weil Muslime ja sehr unterschiedlich leben und der Islam auch sehr unterschiedlich verstanden wird und praktiziert wird, kann ich einzelne Facetten meinetwegen am Islam oder an Muslimen oder an islamischer Rechtsprechung meinetwegen kritisieren, und das machen wir ja weltweit, aber das in Bausch und Bogen zu tun und deshalb zu sagen, Islamkritik muss möglich sein, das das halte ich für schwierig. Tatsächlich glaube ich, müssen wir uns eher darauf committen, dass wir festhalten: Muslime gibt es auf dieser Welt überall. Sie sind ein fester Bestandteil dieser Gesellschaft, damit ihr Glaube auch. Mit dem setzen wir uns seit 20 Jahren ziemlich hart auseinander und ziemlich heftig auseinander. Ich glaube, es gibt bisher keine einzige These, und sei sie noch so krude und verrückt, mit der sich Muslime auf dieser Welt nicht auseinandersetzen mussten, Verunglimpfung des Propheten, Verunglimpfung ihres Glaubens, Verallgemeinerungen über Praktiken, die Muslime so haben oder eben nicht haben. Ich glaube, es gibt praktisch nichts mehr, womit Muslime auf dieser Welt nicht konfrontiert wurden. Insofern glaube ich, dass wir a) unsere Meinungsfreiheit in Deutschland ziemlich gesichert haben und b) es auch sehr viel zum Teil auch berechtigte Kritik an Musliminnen und Muslimen gibt, mit der sich Muslime auch auseinanderzusetzen haben, wie übrigens auch unsere Gesamtgesellschaft auch überlegen muss, wir als Politik sowieso, wie gehen wir mit dieser Kritik um, verstärken wir sie, was bedeutet das für politisches Handeln? Sind alle Muslime gleichzusetzen? Ich glaube, in diesem Prozess sind wir gerade deshalb würde ich schon meinen, hat sich der Diskurs über den Islam in Deutschland in den letzten Jahren doch aus meiner Sicht differenziert, also verändert. Hin zu weniger pauschaler Kritik, der sogenannten Islamkritik, hin zu einer differenzierten Betrachtungsweise.

Hier die Handlungsempfehlungen als PDF downloaden.

Das Gespräch führten Dr. Piotr Suder und Markus Lüke am 30. Oktober 2023.

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